Die beiden Gutachten
Erstgutachten (2012)
Im Februar 2012 wurde vom HPI der Auftrag an den Medizinhistoriker Prof. Heinz-Peter Schmiedebach vergeben, ein Gutachten über die Stellung von Heinrich Pette im Nationalsozialismus anzufertigen. Das von Dr. Andrea Brinckmann und Prof. Heinz-Peter Schmiedebach zusammen erarbeitete „Gutachten über das Verhältnis des Neurologen Professor Dr. Heinrich Pette zum Nationalsozialismus und sein wissenschaftliches Werk zwischen 1933 und 1945“ konzentriert sich auf die Darstellung von drei Aspekten:
- Auf die Rolle Heinrich Pettes als Gutachter bei Zwangssterilisationen,
- auf die Frage, ob Heinrich Pettes Forschungsergebnisse auf Begleitforschungen von „Euthanasie“-Morden beruhten und
- auf eine Mitwisserschaft an „Euthanasie“-Verbrechen durch Kontakte zu belasteten Medizinern.
Das Erstgutachten lieferte jedoch aufgrund der kurzen Bearbeitungszeit von nur acht Wochen kein eindeutiges Bild von Heinrich Pette. Die Autoren betonen dabei, dass die Wissensbasis aufgrund fehlenden Quellenmaterials zu schmal sei, um eine abschließende Beurteilung abzugeben und die Fragen des HPI eindeutig beantworten zu können.
- Das Gutachten stellt jedoch fest, dass Pette mit eigenen Gutachten an Sterilisationsverfahren beteiligt war.
- Zur Frage zu möglichen Forschungen Pettes mit „belasteten Material“ finden die Gutachter keine Belege und regen weitere Recherchen an.
- Zu Pettes Mitwisserschaft an „Euthanasie“-Verbrechen belegt das Erstgutachten zum einen Kontakte Heinrich Pettes zu maßgeblichen „Euthanasie“-Profiteuren sowie Pettes Arbeit im Beirat des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung, so dass eine Kenntnis von „Euthanasie“-Verbrechen sehr wahrscheinlich sei.
Offen blieben Fragen zum Datum und zur Bewertung des Parteieintritts Heinrich Pettes.
Obwohl einige Fragen nicht beantwortet werden konnten und die Wissensbasis für „eine eindeutige Einschätzung“ laut den Verfassern „zu schmal“ bleibe, kommen sie zu folgenden Gesamteindruck:
„Pette tat sich nicht als überzeugter und fanatischer Nationalsozialist und Fürsprecher nationalsozialistischer Erbgesundheitspolitik hervor. Er war jedoch entgegen seiner Verlautbarungen kein ausgewiesener Regimegegner.“
PDF-Download Erstgutachten (2012): Gutachten über das Verhältnis des Neurologen Professor Dr. Heinrich Pette zum Nationalsozialismus und sein wissenschaftliches Werk zwischen 1933 und 1945; erstellt durch Dr. Andrea Brinckmann und Prof. Heinz-Peter Schmiedebach.
Zweitgutachten (2015-2020)
Daraufhin hat sich das Institut entschieden, einen ausführlichen Prozess der Aufarbeitung zu starten: Im März 2015 wurde der Auftrag für ein zweites Gutachten an den renommierten Historiker Prof. Axel Schildt vergeben. Zusammen mit seinem Kollegen Prof. Malte Thießen wurde es in der Zeitspanne vom Sommer 2016 bis April 2018 erstellt. Nach einer ersten Überarbeitung Anfang 2019 sowie einer erneuten Überarbeitung und der Ergänzung mit neuen Daten des Hamburger Historikers Prof. Philipp Osten im Jahr 2020, liegt das Zweitgutachten seit Ende 2020 in seiner endgültigen Form vor.
Die wichtigsten Ergebnisse des Zweitgutachtens umfassen die folgenden Punkte:
- Nach den wenigen vorliegenden Quellen und den bekannten zeithistorischen Hintergründen ist Heinrich Pette als „Märzgefallener“ zu charakterisieren, der seine Parteimitgliedschaft wahrscheinlich aus Karrieregründen betrieb. Ein fanatischer NS-Ideologe und „alter Kämpfer“ war Pette nicht.
- Die Beurteilung des wissenschaftlichen Werks und Wirkens von Pette bleibt widersprüchlich: Einerseits war Pette kein glühender Nationalsozialist in dem Sinne, dass er seine wissenschaftlichen Vorstellungen ideologischen Zielen unterordnete. So bleiben insbesondere Pettes spätere Schriften frei von NS-ideologischen Bezügen. Andererseits repräsentierte er als Zweiter Vorsitzender der GDNP eine der wichtigsten Organisationen der NS-Gesundheitspolitik. Mit seinen Ansprachen und Positionen ebnete er der Neurologie den Weg ins „Dritte Reich“ und er blieb bis zum Ende des Krieges sowohl für Größen der Partei als auch für alle maßgeblichen Ministerien ein wichtiger Ansprechpartner.
- Trotz intensiver Forschungen in Archiven konnten keine Belege für Begleitforschungen Pettes an Opfern der „Euthanasie“ gefunden werden. Da gerade die „Euthanasie“-Begleitforschung in der Medizingeschichte seit Jahren intensiv untersucht wird, ist davon auszugehen, dass Pette selbst nicht in entsprechende Verbrechen verstrickt war. Höchstwahrscheinlich ist allerdings eine Mitwisserschaft Pettes von „Euthanasie“-Verbrechen. Dafür sprechen seine Arbeit im Beirat des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung“ und seine Kontakte mit mehreren Verantwortlichen für „Euthanasie“-Verbrechen. Darüber hinaus hat Pette seine Mitwisserschaft nach 1945 selbst mehrfach bestätigt.
- Als Facharzt für Neurologie war Heinrich Pette als externer Gutachter an Erbgesundheitsverfahren im Sinne des Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses beteiligt. Dabei stimmte Heinrich Pette in verhältnismäßig vielen Fällen für eine Sterilisation (in 7 von 15 bisher bekannten Erbgesundheitsverfahren). In vier Fällen stimmte er dabei auch gegen das Urteil seiner Kollegen, die im Erstgutachten zuvor eine Sterilisation abgelehnt hatten. Zudem konnte gezeigt werden, dass Heinrich Pette vereinzelt auch dann für eine Sterilisation stimmte, wenn das Krankheitsbild (zum Beispiel Alkoholismus/Trunksucht oder „Schwachsinn“) - auch nach dem wissenschaftlichen Stand seiner Zeit - nicht als erblich bedingt einzuordnen war.
- In der Selbstdarstellung Pettes vollzog sich von 1945 bis in die 1960er Jahre hinein ein sukzessiver Wandel. Charakterisierte Pette sich 1945 noch ganz offen als Mitläufer, stilisierte er sich 1961 zum „Widerstandskämpfer“.
Die Erkenntnisse des Zweitgutachtens werden durch den Gutachter Prof. Malte Thießen wie folgt zusammengefasst:
„Pette war kein fanatischer Nationalsozialist und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht in Verbrechen im Zuge der ‚Euthanasie’ verwickelt. Eher lässt er sich als Mitläufer charakterisieren, der die Möglichkeiten des Regimes nutzte, seine Karriere voranbrachte und die Gesundheitspolitik jederzeit unterstützte: Sowohl mit seiner Funktion als zweiter Vorsitzender als auch als Gutachter in Sterilisationsverfahren trug Pette seinen Teil dazu bei, dass die „rassenhygienische“ Gesundheitspolitik reibungslos funktionierte. Wir können also sehr wenige weiße, aber ebenso wenige eindeutig schwarze Stellen in Pettes Biografie betrachten. In diesem Sinne steht Pette fast schon als ein Paradebeispiel für die Komplexität eines Lebens in der NS-Zeit. Und genau deshalb lässt sich sein Leben nicht auf eine einfache Antwort auf die Frage bringen, wie wir heute mit seinem Vermächtnis umgehen sollen.“
PDF-Download Zweitgutachten (Stand November 2020): Heinrich Pette und der Nationalsozialismus; erstellt durch Prof. Axel Schildt und Prof. Malte Thießen.